In der Landschaft entscheidet der Horizont über den Eindruck von Nähe und
Ferne. Er definiert den Raum und legt die Grenzen fest; sie können einen en-
gen Radius beschreiben oder sich der Weite öffnen. Horizont meint aber auch
die Topographie unseres Denkens, das Blickfeld, unser Bild von der Welt, das
von Weitsicht geprägt oder in sich gefangen ist. Der Horizont ist der Bezugs-
rahmen, in dem sich unsere Existenz ereignet.
Die Horizontale ist das verbindende Glied der Arbeiten von Karl Fettweis in
diesem Katalog. Als durchgängiges Prinzip teilt ein schmaler Balken jedes Blatt
im oberen Drittel und führt von der Bildebene zum Raum. Stets die gleiche
Horizontale aber nie der gleiche Horizont. Bei analoger Grundkonzeption vari-
iert Karl Fettweis den Raum neunzehnmal und verdeutlicht damit ein Charak-
teristikum seiner künstlerischen Intention. Räume sind Möglichkeiten, Aus-
gangspunkt für subjektives Erleben; die serielle Verarbeitung des Themas
unterstreicht den Wunsch nach Dynamik und Vielheit und die Skepsis gegen-
über jeglicher Apodiktik.
Das Terrain, das sich erstreckt, geht mal in die Tiefe und ist dann wieder
nur Material, Struktur, Oberfläche, — das Blatt selbst. In der Reduktion wird der
Horizontstreifen zur Chiffre, ist je nach Dichte mal Barriere oder Offnung,
bleibt aber immer eigenständiges, in sich geschlossenes Element, das die Bild-
grenzen nie berührt. Der Raum kann eng sein oder weit, kann materiell klar
umrissen werden, bisweilen sogar tektonische Strenge annehmen oder aber in
einen immateriellen Schwebezustand übergehen.
Der horizontale Streifen ist dabei das energetische Zentrum der Arbeiten.
Als Volumen oder als Fläche wirkt er wie ein Kraftfeld, das sich auf den
Bildzusammenhang auswirkt. Er kann den Raum komprimieren oder dehnen, ihn
in flache Schichten zerlegen oder in die Tiefe staffeln. In der Arbeit auf Seite 3
ist der Horizontstreifen zu einem scharfkantigen Block erstarrt, der an die
massive Dichte eines Bunkers erinnert. Seine Außenflächen wirken glatt und
abweisend. Andere Arbeiten zeigen das horizontale Band zerklüftet, wie
gesichtslose Ruinen (Seite 2 und 9) oder immateriell und schwerelos als trans-
— Fläche und Raum, Nähe und Ferne, Dichte
parente Hülle (Seite 1 und 19).
und Transparenz, das Zusammenspiel distanzierter und kommunikativer
Formen bilden das Spannungsfeld, in dem Karl Fettweis seine Bilder installiert.
Der Künstler entwickelt seine Arbeiten in der Auseinandersetzung mit dem
Material Gerade die Entstehung der neunzehn Horizontbilder war dem Zufall
unterworfen. Sie entstammen der Archäologie des eigenen Schaffens. — Aus
übriggebliebenen, beinahe achtlos weggeworfenen Resten, den Sedimenten
künstlerischen Handelns, hat er sie zutage gefördert. Es sind ausgediente Kar-
tonunterlagen, auf denen sich die Spuren vorangegangener Arbeitsprozesse
eingeprägt haben; der Horizontbalken ist lediglich ein verbrauchter Klebe-
streifen, dem die Erinnerung vergangener Werkprozesse anhaftet. Die
Schatten früherer Bilder waren so der Ausgangspunkt für neue Werke.
Es entstanden Bildräume als Fundstücke, die entdeckt und nicht ausgedacht sind.
Sie sind aus einem Prozess hervorgegangen, der nicht zielgerichtet
war, sondern lediglich das zufällig entstandene als Raum, als Landschaft zu
erkennen und als vorhanden zu akzeptieren hatte. So steht besonders in
diesen Arbeiten von Karl Fettweis nicht das Fiktionale im Vordergrund, sondern
das Unausweichliche weil Aufgefundene. Es ist als hätten die Bilder ihre
Existenz selbst eingefordert. Sie sind real, weil sie unkalkulierbaren Zufällen, einer
Verkettung von Möglichkeiten entstammen, die nur bedingt dem Zugriff des
Künstlers unterworfen waren.
Diesen Voraussetzungen entspricht die Reihung. Sie löst die Einzelarbeit
aus den Bedingungen des einmaligen Sonderfalles, der Episode. Sie stellt sie in
den Zusammenhang ähnlicher Arbeiten und steigert ihre Begrenzung zur
Allgemeingültigkeit. Kein bestimmter Raum ist gemeint, kein spezieller
Landschaftsausschnitt, sondern Raum in einem elementareren Sinn. Vergeblich
suchen wir nach Anhaltspunkten, nach Orientierung. Es gibt keine Gebäude,
keine Aufenthaltsorte und keine Schauplätze. Keine Szenarien werden aus-
gebreitet, sondern poetische Räume entwickelt, in denen sich unsere
Imagination frei bewegen kann. Hier werden keine Zufluchtsorte angeboten.
Gewissheit bieten sie nicht im Sehen oder Wiedererkennen, sondern Im Erleben
Die Variation innerhalb der Bildreihung ermöglicht die konsequente Reduktion
in der Einzelarbeit. Dort, wo fast nichts mehr ist, nur noch der Reiz sparsam
verwendeter Schlüsselsignale, kann Raum, kann auch Landschaft neu entstehen.
Die Arbeiten dieses Kataloges zeigen nur den Minimalfall eines
Landschaftseindrucks: Fläche, die im rechten Winkel horizontal durchschnitten
wird. Die Horizontale ist dabei zunächst eine absolute Setzung. Zeit und
Dynamik haben sich bis zur Stagnation verlangsamt. Es bleibt unbeantwortet,
welcher Zeit diese Räume angehören, was sie eröffnen. Die Begriffe
Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft sind nicht anwendbar. Die Zeit, die Aktivität hat
sich dagegen in den Betrachter verlagert. Das Serielle, der sukzessive Nachvollzug gibt
den Arbeiten eine externe Dynamik, die mit jedem Blatt neu entsteht.
Ein horizontal gelagerter Körper ist eigentlich Sinnbild des Ruhenden,
Passiven; in der Gesamtschau aller Arbeiten wird er jedoch zum aktiven Mittel-
punkt, von dem alle Impulse ausgehen.
Die Ansicht Ernst Wilhelm Nays,
“… das Weltverständnis der Gegenwart habe die dreidimensionale fassbare Wirklichkeit verloren”1 … , trifft sicher heute mehr zu denn je. Die Notwendigkeit, sich in realen Räumen zu bewegen nimmt ab. Die Simulation der Realität, die Nutzung fiktiver Bezugsrahmen
raubt uns den individuellen, fassbaren Horizont. Das Bild ersetzt das Weltbild.
Um so bedeutsamer werden poetische Räume, in denen sich die Imagination aufhalten kann. Die Arbeiten von Karl Fettweis verfügen über keine Chronologie. Die Reihung kennt keine Hierarchie, weder festgelegte Anfangs-,
noch Endpunkte. Es gibt kein letztes Wort, keine endgültige Position. Die Antwort liegt in der Abfolge, die beliebig ausgedehnt werden kann. Die Möglichkeit der endlosen Fortsetzung setzt den Versuch an die Stelle der Antwort. Der Prozess ist der Platzhalter für individuelle Lösungen.
1 Zitiert nach Lothar Romain, in:
Positionen, Malerei aus der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1986, S. 14